Reisebericht Marseille
Quirlig und doch stellenweise provinziell ...
Von Horst Blume
... so lässt sich Marseille vielleicht charakterisieren. Wenn der Leser sich erstaunt fragt, wie eine Millionenstadt provinziell sein kann, dann sollte er die im südöstlichen Stadtviertel gelegenen Hügel in der Nähe des Mittelmeeres erkunden. Es ist ein Erlebnis, die zahlreichen Gassen und Treppenwege zwischen Gärten, Villen und Bürgerhäusern zu durchstreifen und alle paar hundert Meter mit neuen Ausblicken auf die Stadt und die vorgelagerten Inseln verwöhnt zu werden. Natürlich gibt es in Marseille genauso vielbefahrene laute Straßen, triste Hochhäuser, sehr lebendige Einwandererviertel und enge Häuserschluchten.
![]() Am Hang gelegen ... |
![]() ... vorgelagerte Inseln |
Über die Kriminalität in dieser Stadt ist in den letzten Jahren viel berichtet worden. Meine Erfahrung ist, wer aufpasst und vorsichtig ist, kommt in der Regel ganz gut zurecht. Das Auto sollte man allerdings zuhause lassen (dann kann es auch nicht geklaut oder aufgebrochen werden). In Marseille ist der öffentliche Nahverkehr nicht nur gut ausgebaut, sondern auch extrem preiswert! Neben den Buslinien gibt es hier zwei U-Bahnstrecken. Das Wochenticket für Alles kostet 10.50 Euro; während einer Öko-Kampagne sogar nur 7 Euro. Das sind ein Euro pro Tag, preiswerter geht es kaum. Ein Passbild muss man allerdings mithaben und sich an dem Metroschalter unten im Hauptbahnhof auf eine längere Wartezeit einstellen.
Hafen und Innenstadt
Beeindruckend ist der riesige langgezogene Hafen, indem viele hundert Segelschiffe vor Anker liegen. Die vielbefahrene Uferstraße lärmt gewaltig, gemütlich ist es hier gewiss nicht. Fußgänger haben es bei der Strassenüberquerung nicht einfach. Auf dem schmalen Streifen am Hafenrand findet schon mal ein bunter Markt oder Fischverkauf statt. Wer es bis zur Hafenausfahrt am offenen Meer geschafft hat, trifft auf zwei gegenüberliegende Festungen, die nur durch eine relativ schmale Fahrrinne für Schiffe getrennt werden. Von diesen höhergelegenen Punkten hat man einen wunderbaren Überblick über den Hafen und die gesamte Stadt. In der Ferne ist das Gebirge erkennbar. Hier lässt es sich aushalten. Hinter der westlichen Festung befindet sich ein Uferweg am offenen Meer, wo es ruhiger ist und ab und zu ein orientalischer Teeverkäufer mit einem schönen Handwagen Erfrischungen anbietet.
Und weil gemeinsames Tee trinken Kulturen und Menschen einander näher bringt, lohnt es sich hier immer wieder ein wenig zu verweilen. Wir zelebrieren dieses Ritual oft auch in der Heimat und legen Wert darauf, den Tee aus fairem Handel mit biologisch zertifizierten Zutaten zu beziehen. In Erinnerung an Frankreich und diese wundervollen Auszeiten, haben wir uns über die Entdeckung des Tees im Netz von terre d’Oc sehr gefreut.
Zurück zum Ende der Hafenbucht geht man durch die zahlreichen touristisch geprägten Straßen mit all ihrem Luxus. Von hier aus führt die belebte Haupteinkaufsstraße La Canbière in die Innenstadt. Nur wenige hundert Meter vom Hafenbecken entfernt liegt "Le Panier". Am Rande dieser Altstadt ergeben sich durch große Torbögen hindurch schöne Fotomotive in Richtung Hafen. In Le Panier sind während des 2. Weltkrieges Flüchtlinge und Widerstandskämpfer untergekommen.
Viele versuchten verzweifelt einen Pass oder Visum zu ergattern, um der faschistischen Barbarei zu entkommen. Die deutsche Wehrmacht hat das Viertel bombadiert und zerstört. Lediglich ein kleines Eckchen wurde verschont. Dort laufen heute Touristen in den Gassen und auf den Treppen herum. Ob sie wirklich begriffen haben, was hier einmal passiert ist?
Hinter der Altstadt in Richtung Meer liegt einer der größten französischen Kirchenbauten. Pompös und etwas hässlich. Errichtet nicht unbedingt, weil es an Gebetshäusern in Marseille mangelte, sondern um den hier einlaufenden, vielfach islamischen Seeleuten durch eine unmissverständliche bauliche Machtdemonstration zu zeigen, wer hier das Sagen hat.
Eine Attraktion ist das Künstler- und Antiquitätenviertel rund um die Rue Breteuil besonders an jenen Sonntagen, wenn die Geschäfte geöffnet haben und ihre Exponate draußen auf der Straße zeigen. Zwischendurch sorgen kleine Imbissstände und Cafes für das leibliche Wohl und angenehmen Aufenthalt. Genau so stelle ich mir die positiven (touristischen) Seiten von südfrankreichs Städten vor. Kleine Kioske, Blumenläden, alte Gebäude, allerlei verzierte Brunnen und hin und wieder lange Treppen auf einen der vielen kleinen Hügel Marseilles komplettieren das Bild. Interessant sind ebenfalls die vielen recht unterschiedlich ausfallenden Wandgemälde. Von kitschig bis gekonnt ist alles dabei.
Vorgelagerte Inseln und Steilküste Calanques
Irgendwann bin ich des Rummels in den Straßen überdrüssig und halte Ausschau nach einer Fähre zu den drei vorgelagerten Inseln. Für zehn Euro fahre ich zu den Iles du Frioul.
Während der kurzen Überfahrt streifen wir die Ile d´If mit ihrer Festung, auf der der Film "Der Graf von Monte Christo" gedreht wurde. Die beiden Inseln Ratonneau und Pomegues sind durch einen Damm verbunden. Auf Ersterer wandere ich an dem beschaulichen Strand St. Estève und einigen Hügeln vorbei zum Cap de Croix, um fast ganz alleine den Ausblick auf das Meer und Marseille zu genießen. Nach ein paar Stunden gehe ich wieder zum Inselhafen zurück und fahre mit dem Schiff wieder nach Marseille.
Ein besonderes Erlebnis ist sicher auch die mehrstündige, recht teure Schifffahrt entlang der Steilküste Calanques, vorbei an kleinen Inselchen und hinein in ein halbes Dutzend Buchten, oft nah an den Felsen entlang. Das Schiff mit ungefähr 100 im sekundentakt wild umsichknipsenden Hobbyfotografen nähert sich zielgerichtet dem Strand mit etlichen freizügig dort Badenden, die eilig nach ihren Handtüchern oder Badeanzügen greifen. Nach heftigem Kamerageklicke zieht sich die schwimmende Peepshow wieder zurück und es kehrt wieder Ruhe am Strand ein. Abgesehen von einigen schönen Landschaftsbildern kam mir das Ganze etwas merkwürdig vor.
Es gibt eine viel preiswertere und schönere Möglichkeit, die Felsküste bei Marseille zu erleben. Man fährt einfach mit der Buslinie 19 und 20 die Küste entlang, was an sich schon sehr sehenswert ist. Nach verschiedenen Stränden an der vielbefahrenen Küstenstraße entlang wird es langsam immer ruhiger. Man kommt an zwei pittoresquen Hafenbuchten mit einigen teuren Fischrestaurants vorbei, steigt in einen Minibus um und fährt bis zur Endstation Callelongue.
Ein Minihafen mit ein paar Häusern -- und dahinter beginnen sofort die Calanques. Die Straße endet auch hier und deswegen heißt es: Bergsteigen und Naturgenuss in der Großstadt! Natürlich geht es an einigen Stellen recht steil hoch und ich überblicke nach einer guten halben Stunde genau jene Stellen, die ich am Tag zuvor mit dem Schiff passiert habe. Allerdings ist jetzt der Ausblick ungleich schöner als auf dem flachen Schiff! Es ist wirklich sehr empfehlenswert und man kann natürlich mit gutem Schuhwerk noch weiterlaufen zu weiteren interessanten Aussichtspunkten.
Ausflug nach Aix-en-Provence
Der Hauptbahnhof von Marseille liegt auf einem Hügel mit tollem Ausblick über die Stadt. Von hier aus sind es nur 35 Eisenbahnminuten nach Aix-en-Provence. Diesen Abstecher sollte man sich nicht entgehen lassen. Wenige Minuten vom Bahnhof in Aix entfernt befindet sich der Kreisel mit einem riesigen Brunnen. Von dort aus geht's die baumbestandene Einkaufsprachtstraße entlang und dann in die wunderschöne Altstadt. Am besten an einem Markttag, um zwischen den alten Häuserfassaden und auf Plätzen diese Atmosphäre zu erleben oder einen Cafe zu trinken.
![]() Altstadt von Aix-en-Provence... |
![]() ... mit schicken Geschäften |
Algerien in Frankreich
Nach diesem Tagesausflug schlendere ich durch das "Emigrantenviertel" östlich der Haupteinkaufsstraße La Canbière. In Anführungsstrichen deswegen, weil inzwischen insgesamt fast 40 % der Einwohner von Marseille Emigranten sind bzw. ihre Nachkommen sind.
Und diese wohnen selbstverständlich auch woanders. Aber hier in diesem Viertel unweit des Hafens wimmelt es vor bunt gekleideten Afrikanern, abenteuerlich auf wenigen Quadratmetern zusammengeschusterten Gemüseläden, Straßenhändlern, Cafetischchen am Straßenrand, Billigläden und Imbisstuben.
Das Viertel ist an einigen Stellen etwas heruntergekommen, Müll liegt herum. Dennoch gefällt es mir hier mitten im pulsierenden Leben gut.
Gerade höre ich von Weitem laute Rai-Musik, treffe einen Pulk von etwa 200 meist jüngeren tanzenden Menschen. Aufgeregte Mofafahrer steuern waghalsig mitten in die Menge hinein, um ja nichts von dem sonntäglichen Event zu verpassen. An einer Straßenecke dröhnen aufgebaute Boxen. Jungendcliquen tanzen ausgelassen, zwischendrin ein paar Opas mit ein paar eher traditionelleren Tanzbewegungen, dutzende Hände hochgereckt mit Digitalkameras. So ein schöner Tag muss mit Fotos festgehalten werden.
Rai-Musik
Erstauntes Aufblicken, das ein über 50jähriger "Tourist" wie ich sich ebenfalls mitten ins Getümmel stürzt, denn Rai-Musik gehört seit 20 Jahren zu meiner Lieblings-Weltmusik. Am Anfang wollte ich vor allen Dingen die arabisch-berberische Welt besser verstehen. In Frankreich leben mehrere Millionen Algerier. In der nach erbitterten Kämpfen jetzt selbstständigen ehemaligen französischen Kolonie herrscht ein autoritäres, bürokratisches Regime, das sich wie zum Hohn sogar einmal sozialistisch genannt hatte. Als Ausdruck einer eher kulturellen Opposition von Algeriens Jugend (und auch der Frauen!) gegen überkommene Moralvorstellungen und Bevormundung entstand aus einem Mix von traditioneller Berbermusik und moderner Rockmusik der Rai -- etwas vereinfacht gesagt.
Die von einem subkulturellen Nonkonformismus geprägten Musiker nahmen sogar Elemente des Flamenco, jüdische und lateinamerikanische Elemente mit auf. Während der 90er Jahre wurden etliche bekannte Musikerinnen und Musiker in Algerien von Islamisten ermordet. Viele Rai-Musiker gingen daraufhin nach Frankreich ins Exil, manche wurden dort Stars. Sogar in der BRD ist "Cheb Khaled" in den Hitparaden bekannt geworden ....
Hier in Marseille ist die Hochburg des Rai. Die Jugend reichert diesen Musikstil inzwischen mit Hip Hop und Techno an. Der Ruf "Mahgreb United" wirkt identitätsstiftend für die mit vielen Schwierigkeiten kämpfenden Jungendlichen. Auf dem Höhepunkt der spontanen Open-Air-Disko wird die algerische Flagge ausgebreitet. Dann löst die Versammlung sich langsam auf. Eine Stunde später geht's wieder von vorne los. Ich bin seitdem jeden Tag in diesem Viertel.
Wer mal wieder etwas mehr Ruhe benötigt, der geht in das "dörfliche" Marseille östlich des Hafenbeckens und südlich der auf einem Berg liegenden Notre Dame de la Garde. Von dieser hoch gelegenen Kirche blickt man auf die ganze Stadt. Gut einen Kilometer gegenüber liegt der Hügel Perrier (Quelle von dem bekannten Mineralwasser), wo ich gewohnt habe. Von hier aus kann man mehrere Stunden an den Hängen in Richtung und entlang des Meeres wandern und begegnet meist nur wenig Menschen. Ein erstaunlicher Kontrast zur Innenstadt. Diese angenehme kulturelle, landschaftliche und städtebauliche Vielfalt hatte ich ehrlich gesagt in Marseille so nicht erwartet.
Horst Blume
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